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"Ich-Kristall" - des Geistes kristalliner Leib

Von Wolfgang Pauser

Wolfgang Pauser "Ich-Kristall" - des Geistes kristalliner Leib

Schneeröschen

Schneehecke türmt sich stündlich Keiner kommt durch ich befinde mich abgeschnitten Weg sind die Wege kein Mensch Schlägt sich durch nur du kannst mich retten
(...)
Kommst du und schaufelst den Schnee Tränen im Auge und findest mich nicht Und schlägst aus dem Eis Ein Abbild kaufst gläserne Blumen

Sarah Kirsch 1


Das Märchen vom Schneewittchen und das Phänomen Kristall sind miteinander verbunden durch ein ungewöhnliches Requisit, das die Struktur der gesamten Erzählung zu einem einprägsamen Bild verdichtet: den gläsernen Sarg. Denn die klassische Form des Sargs mit ihren schrägen Flächen und Kanten entspricht der eines geschliffenen Schmucksteins, während das gläserne Material dem Diamanten in seiner Durchsichtigkeit gleicht. Form und Material verbinden sich beim gläsernen Sarg zur Vision einer von Kristall umschlossenen Frau.
Daß der Sarg aus Glas angefertigt ist, wird im Märchen damit begründet, daß das tote Schneewittchen keine Verwesungserscheinungen zeigt, sodaß es schade wäre, diesen aus innerstem Wesen heraus sich selbst konservierenden Körper den Blicken zu entziehen, wie dies bei verwesenden Leichen geschieht, damit die Hinterbliebenen leichter ein makelloses Bild in ihrem Gedächtnis konservieren können. Diese Historisierung und Bildbewahrung durchs Einsargen nimmt hier der tote Körper selbst schon vorweg, er wird zum starren Abbild seiner selbst im kristallenen Rahmen. Es scheint das Anliegen von Schneewittchen zu sein, der Tatsache, daß sich die anderen ein Bild von ihr gemacht haben werden, vorwegzunehmen und selber zum fixierten Bild werden zu wollen. Schneewittchen übernimmt die Gedächtnisfunktion der anderen und exekutiert sie an sich.
Das Bestreben ihrer eitlen Stiefmutter, im Spiegel ein perfektes Bild zu bewahren, hat sie so stark verinnerlicht, daß sie rechtzeitig, also bevor sie selbst zu einer Mutter wird, den Fluß der Zeit einfriert, auch um den Preis ihres eigenen Todes. Sie ist eine unfreiwillige Agentin und Überbieterin der Altersbekämpfung ihrer Mutter. Und weil Gedächtnis das einzige Mittel zur Überwindung der Zeitlichkeit ist, arrangiert sie mit ihrer Selbstmusealisierung in der Vitrine ein Gedächtnistheater, das alle realen Kühlschrank- und Mumifizierungstechnologien symbolisch überbietet. Im Sarg verkörpert das scheintote Schneewittchen die Utopie, selber das Gedächtnis seiner selbst sein zu können. Lebendig phantasiert sie sich als Tote, als bei sich selbst Angekommene. Mit dem Sargdeckel schließt sie, in Gedanken vorauseilend, ihr Leben vorzeitig ab, jedoch nicht, um sich zum Verschwinden zu bringen, sondern um in einer spiegelnden Reflexivitätsform vollständig und transparent zu werden. Sie macht den einzigen möglichen ihre Gesamtheit umfassenden Gedanken ihrer selbst zu einem Ausstellungsgegenstand.
Während von der Märchenerzählung die Funktion des Kristallsargs in einem Anhalten der Zeit des Verfalls begründet wird, spricht das Märchen insgesamt vom gegenteiligen Problem: Wie läßt sich zwischen Kindheit und Vermählung die Pubertätszeit überstehen, wie läßt sich das Frauwerden aufschieben? Gegenüber dieser Frage zeigt der gläserne Sarg sein wahres Potential. Während er vorgibt, die Zeit des Verfalls einzufrieren, dient er primär dem Aufschub des Erblühens. Was die Psychoanalyse "Latenzzeit" nennt, wird in ihm dinglich anschaubar.
In der vergleichenden Märchenforschung wurde Schneewittchen oft in Analogie zu jenen häufig vorkommenden Pubertätsritualen gesehen, die für den problematischen Übergang vom Kindsein zum Frausein eine dazwischengeschobene Phase des Exils vorsehen, etwas wie eine Auszeit, einen rituellen Ausnahmezustand. Das den Mythos in Gang bringende Bild vom roten Blutstropfen, der in den Schnee fällt, deutet auf diesen Zusammenhang der beginnenden Geschlechtsreife. Desgleichen die asexuelle Zwergenfamilie im Waldhäuschen, die ihr mythologisches Vorbild hat in der archaischen Institution des Internats für Frühpubertierende (2) . Im gläsernen Sarg gerinnt das Ritual, aus dem Zeitfluß des normalen Lebens zum Zweck der Bewältigung eines Übergangs kurzfristig herauszutreten, zu einem starren Bild.
In dramatischen Übergansphasen wird Identität zum Problem. Weil die soziale Identität im Wechsel vom Tochterstatus zum Frau- und Mutterstatus keinen Halt bietet, tritt der Körper als Identitätsgarant in den Vordergrund. Doch auch dieser erweist sich in seiner Integrität nun als gefährdet. Die Körpergrenze verliert als Ichgrenze ihre Verläßlichkeit, sie wird von mehreren Entgrenzungsprozessen bedroht. Das austretende Blut, das Haar schwarz wie Ebenholz, der nahende Prinz nehmen der perfekt-schneeweißen Außenhaut ihren undurchdringlichen Charakter. Als zur Schönheit erblühende Haut verliert diese die Qualität einer das Ich und das Innen stabil ummauernden Festung und verwandelt sich zu einer Einladung an die Männer als ihre Durchdringer. Im Spiegelbild erkennt das erblühende Mädchen mit Schrecken die neue Adressiertheit ihrer Haut an einen fremden Blick. Mit der Unberührbarkeit und Unschuld des Kindes ist es vorbei. Die "makellose" Haut erhöht die Angst vor ihrer Versehrung und führt das Gegenbild des zu erwartenden Makels schon im Wort bei sich. "Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz": die Farbmetaphorik führt scharfe Gegensätze zusammen, läßt blühendes Leben, Verletzung und Tod ständig ineinander kippen. Schneewittchen erlebt eine serielle Abfolge von Toden und Wiedererweckungen. Der gläserne Sarg gibt diesen Erzählfiguren des Scheintotseins eine äußere Hülle und Anschauungsform.
Doppelt gefährdet ist die Körpergrenze als metaphorische Stütze der Ichgrenze in pubertärer Zeit: Neben ihre sexuelle Durchdringbarkeit tritt die Veränderung der äußeren Form, der Wandel der Figur. Hautdurchdringung und Figurwandel sind miteinander verbunden im Thema des Essens. Der Eßvorgang wird von einer sexuellen Metapher befallen, denn da wird etwas in den Körper hineingenommen, was die Figur verändern könnte, was einen Bauch zur Folge haben könnte. Schon die Empfängnis des Schneewittchens wird im Bild einer Hautverletzung erzählt - ihre Mutter sticht sich mit einer Nadel in den Finger. Bei der Ankunft im Zwergenhaus wird sodann das Nahrungsproblem dramatisch: "Wer hat von meinem Tellerchen gegessen? Wer hat mit meinem Messerlein geschnitten, wer hat von meinem Becherchen getrunken?"
Im Zwergenhaus herrscht eine genaue Ordnung und Rationierung der Nahrungsaufnahme, jede kleinste Abweichung wird bemerkt. Auch das Körperwachstum wird problematisch, denn Schneewittchen paßt in keines der Zwergenbettchen hinein, paradoxer Weise sind die Betten abwechselnd zu lang und zu kurz. Am Bettenthema wird rasch klargemacht, um welche Vermeidung es geht. Auch als einzige Frau unter sieben Männern teilt Schneewittchen mit keinem das Bett. Vielmehr legen sich die Zwerge brüderlich zusammen, damit Schneewittchen abgesondert bleibt. In diesem Erzählabschnitt werden die Zwerge als klösterliche Entsexualisierungsgemeinschaft eingeführt, in welcher ein obsessives Regime der Ernährung und der Sauberkeit herrscht. Umjubelt vom Kastratenchor der Verkürzten tritt Schneewittchen in eine Existenzform ein, in der die Regulierung der Körpergrenze das ganze Anliegen ist. Die Außenwelt trägt Verführungen und Vergiftungen an das Mädchen heran, sie aber darf niemanden ins Häuschen einlassen, muß alles rein halten und den asexuellen Zwergen, den Repräsentanten ihrer eigenen Kindheitsform, die Treue halten.
Diese Existenzweise der bereinigten und gesicherten Körpergrenze findet im gläsernen Sarg ihre bildliche Überhöhung. Der scheintote Zustand ist dadurch gekennzeichnet, daß ein Leben ohne Stoffwechsel als möglich erscheint. Das phobische Verhältnis zum Stoffwechsel zeigt die Identitätsproblematik der Übergangsphase deutlich an. Nahrungsmittel, Verunreinigungen, Blutungen und geschlechtliche Vereinigungen, kurz alles, was die Hülle der Haut durchdringt und ihren die innere Einheit definierenden Grenzstatus gefährdet, weist das Schneewittchen von sich. Das Blut soll aus der Haut weichen, kalt und starr wie Eis soll sie werden. Die schneeweiß vereiste Haut fordert die sinnreiche Erfindung der Zwerge, einen gläsernen Sarg zu bauen, geradezu heraus, ist sie doch selbst wie aus Glas, eine für Stoffe undurchdringliche Trennung, die das Getrennte doch nicht zum Verschwinden bringt. Der Glassarg ist die Verdinglichung des aufgeschobenen Stoffwechsels, Körperwechsels, Identitätswechsels und der Geschlechtervereinigung. Die von der pubertierenden Haut signalisierte Bereitschaft, sich zu verströmen, sich zu öffnen, zu erröten, anzuschwellen und sich anderen Häuten gegenüber zu entgrenzen, ja sich mit fremden Wesen zu vermischen, wird von der gläsernen Zweithaut abgefangen. Im Zwergenreich läßt sich die Kindheitsidentität mithilfe einer kristallenen Tiefkühltruhe noch eine kurze Etappe lang einfrieren. Wie ein Raumschiff in einer intergalaktischen Warteschleife unternimmt Schneewittchen eine kleine Reise ins Zwischenreich von Leben und Tod, eine Reise ins Reich der gefrorenen Zeit.
Die geschlechtsmetaphorische Aufladung des Essens als Bauchfüllung zeigt sich im Märchen in mehreren Sequenzen. Neben der schon erwähnten Paranoia-Reaktion der Zwerge auf das bloße Berühren ihrer Eßgerätschaften tritt hier das "Schnürband" des Mieders als todbringende Verschlankungstechnik in Erscheinung. Unschwer erkennen wir in dieser Episode ein Symptom der Magersucht als Antwort auf die mütterliche Totalisierung des Narzißmus vor dem "Zauberspiegel". Doch auch die findet hier eine frühBulimie (3) e Andeutung, denn das Erbrechen des von der Mutter stammenden und daher vergifteten Apfels weist als Symptombildung den Ausweg aus der Erstarrung in der Falle des Selbstverschlusses, aus dem toten Leben in der Himmelsgruft der Selbstidealisierung. Der Apfel, zur Hälfte vergiftet, zur Hälfte genießbar, zeigt in seiner Ambivalenz zum guten und bösen Objekt, daß die geschlechtliche Verführung mit einer Todesdrohung behaftet ist. Als Verkörperung einer problematisch gewordenen Nahrung dringt er nicht vollständig in den Körper ein, sondern nur halb und verwandelt diesen in einen halb toten und halb lebendigen. Apfel und gläserner Sarg entsprechen einander in der Erzählung strukturell als Formen der verfestigten Gegensätze: Tot und lebendig, giftig und verführerisch, verschlungen und ausgespien. Stoffwechsel mit Fremdkörpern ja oder nein, das ist die Achse der Oppositionen, die das Märchen organisiert.
Der Glassarg ist darauf die verneinende Antwort. Verständlich auch, denn der erste Mann im Leben Schneewittchens ist der Jäger, der es im Auftrag der Mutter mit dem "Hirschfänger" erstechen soll, sodann ihm Leber und Lunge aus dem Leib schneiden, damit die Stiefmutter die Organe auffressen kann. Ein Jack the Ripper und eine kannibalistische Mutter bahnen Schneewittchens Fluchtweg in die autoerotische Nekrophilie. Das idealisierte Leichenschauhaus, ein Ort der Unantastbarkeit, bildet den mythischen Gegenpol zu den leiblichen Lüsten des Durchdringens und Verschlingens, des Durchdrungenwerdens und Verschlungenwerdens, die Schneewittchen selber in sich aufkommen spürt und von sich weist. Wenn die ersten Blutstropfen in den Schnee fallen und der Jägermann seinen Hirschfänger zückt, um den inneren Organen des Mädchens beizukommen, was wäre naheliegender, als sich in ein brillantes Schneckenhaus des eigenen Selbst, in einen kristallenen Sarg zurückzuziehen? Totstellen, Kind bleiben, Unschuld bewahren und das Schlimmste, den Tod und die Selbstauflösung, antizipieren, damit dies nicht eintrete?
Doch die süße Poesie aller Verneinungen liegt darin, daß sie das Abgewiesene beinhalten wie der Schneewittchensarg das blühende Leben. In der Geste des Abwehrens bleibt kenntlich, wogegen sie gerichtet war. Der inszenierte Tod gerät damit insgeheim zur Beschwörung eines ins Höchste gesteigerten Lebens. Einer Lebendigkeit, die ihren eigenen Tod in sich aufzuheben vermöchte, indem sie absolut gesetzt, vom Prozessualen gereinigt und in eine Realabstraktion ihrer selbst transformiert wird.
Der Scheintod ist eine Überbietung des Lebens und als solche von Schneewittchen erwünscht und ersonnen. Weder der Todeswunsch der bösen Mutter noch die lüsternen Blicke der Zwerge und Prinzen sind für die Aufbahrung und Zurschaustellung einer objekthaften weiblichen Schönheit verantwortlich zu machen. Das Motiv, dem eigenen Begräbnis beizuwohnen, ist eine kulturhistorische Universalie und nicht, wie ein feministisches Erkenntnisinteresse dies als Opferapriori will, auf Frauen beschränkt. Weil das Absolute nicht als Prozeß der kontinuierlichen Selbstauflösung und Selbstverbrennung, wie es das körperliche Menschenleben nun einmal ist, denkbar ist, eilt die Reflexion dem Endstadium voraus, um es imaginär zu überholen und damit sich in ein Bild des Ganzen einfangen zu können. Man will sich hinter sich gebracht haben, den Rückblick vorwegnehmen, um ganz man selber zu sein - ein Phantom der Identität. Dieses Phantasma ist eine Folge des Reflexionsvermögens, das im Falle des gegenständlichen Mythos den Körper nicht außen vor lassen will, sondern im Gegenteil, diesen als Pseudoleiche zum Medium der reflexiven Selbsteinholung bestimmt. Schneewittchen tut nichts anderes als jemand, der seine eigene Biographie verfaßt oder eine Büste seiner selbst in Bronze gießen läßt, als Totenmaske vorweg. Die Stelle ihres Gesamtbildes will Schneewittchen selbst besetzen, ihr Körper soll zugleich seine eigene Repräsentation sein, ihr vom Stoffwechsel befreiter Leib damit ein rein geistiger werden. Das Glas ist eine Zweithaut, die mit ihrer Geschlossenheit das Ideale von den Vermischungen des Realen absondert, das Prozessuale stoppt, Reinheit und Unversehrtheit garantiert und den Signifikanten mit dem Signifikat zusammenfallen läßt. Der gläserne Sarg ist ein Bild für den Körper in einem kristallinen Stadium, für eine mineralogische Existenz. In dieser ist Leben gleichgesetzt dem feurigen Funkeln eines toten Steins, das jedoch nie vergeht. Der kristalline Leib entspricht exakt dem Phantasma des absoluten Geistes: sich in sich selbst eingeholt und aufgehoben zu haben. Das Futur Perfekt als zeitigende Seinsweise des Subjekts wird in kristalliner Form manifest: Ich bin die, die ich gewesen sein werde, sagt Schneewittchen. Kristallisation heißt Selbstreflexion am eigenen Leibe.
Im Hinblick auf die Allgemeinheit der Leib-Geist-Problematik ist es kein Wunder, daß neben dem weiblichen Bild des Schneewittchens auch das Bild des kristallumschlossenen Mannes in der Kunstgeschichte immer wieder vorkommt. Aus dem 17. Jahrhundert stammt der "Diabolus in Vitro", eine in einem Kristall befindliche Teufelsfigur (sie befindet sich im Kunsthistorischen Museum Innsbruck). In der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert ist der kristallisierte Mann ein häufiges Motiv (4): Paul Klee ("Ich-Kristall", 1915), Lyonel Feininger, Alberto Giacometti, Michail Matjuschin in seinem "Selbstporträt Kristall", Salvador Dalí und Jacques Villon, aber auch Edvard Munch ("Zum Licht hin", 1926), Gino Severini, Bart van der Leck und Antonin Prochazka variieren das Thema vom kristallenen Mannesbild.
Die jüngste Karriere des Motivs findet im Genre des Science-fiction-Films statt. Prominent erscheint es in Stanley Kubricks "2001-Odyssee im Weltraum": Die Mannschaft liegt in gläsernen Särgen im Raumschiff und wird nach absolvierter Zeitreise von einem frei im Weltraum schwebenden Kristallstein in ein neues Leben übergeführt. Seither gehört die stets gläserne Menschentiefkühltruhe als Standardausrüstung eines Raumschiffs zu jeder SF-Fernsehserie. Man kann sogar sagen, das beliebte Filmmotiv des Raumschiffs selbst sei so etwas wie ein vergrößerter und technisierter Schneewittchensarg, die Mannschaft ähnlich der Zwergenschar eine ewig puerile, sterile und fleißige Kastratenhorde, der alles Irdische fern liegt: Raumschiff Enterprise!
Die Idee des Scheintods, wie sie der lebendig funkelnde tote Kristallstein verkörpert, schließt das Nochnicht-Leben der Jungfrau mit dem Nichtmehr-Leben der frisch Verstorbenen kurz und läßt die Vermischungs- und Auflösungsprozesse dazwischen entfallen. Von den Randpunkten her wird das Leben als ganzes und ideales repräsentiert. Der Begriff der Perfektion benennt am genauesten, worum es dem Schneewittchen, seinem Sarg und jedem Schmuckstein geht. Perfekt heißt wörtlich vollendet. Die mit der Ankunft aus der Erinnerung gewonnene Fülle der Präsenz saugt die Zeitlichkeit in sich ein, wehrt die Vergänglichkeit ab. Wie ein gläserner Sarg ist ein Schmuckstein ein stabiler Zweitkörper, der in den Übergängen und Wechselfällen des gelebten Lebens für Identität sorgt und mit seinem Lichtleben beweist, daß er den Tod schon hinter sich und besiegt hat. Er steht für ein imaginäres Leben, das sich in der Makellosigkeit halten könnte, indem es Identität und Idealität zu einem kristallenen Kern verschmilzt. Den Prozeß des Verliebens, der dem Prinzen widerfährt, als er die verabsolutierte Schönheit erblickt, will der Schmuckstein einfrieren zu einer idealen Liebe, die alle Zeitlichkeit besiegt.


1 Sarah Kirsch: Schneeröschen. In: Hundert Gedichte. Ebenhausen bei München 1985. Zit. nach: Katalin Horn: Bilder des Todes in der Dichtung Märchen und in der Märchendichtung. In: Tod und Wandel im Märchen. Internationaler Märchenkongreß der Europäischen Märchengesellschaft 1989, Salzburg 1990, S. 50

. 2 "Bei einigen Stämmen wurde das Mädchen vor der Menarche in einer sogenannten Pubertätshütte in harter, oft unterirdischer Gefangenschaft abgesondert und mußte dort einige Zeit, nur von einer alten Frau des Stammes betreut, bei strengem Fasten zubringen. Nach Beendigung dieser initiationsähnlichen Phase, in der das Menstruationsblut wegen seiner angeblich unfruchtbar machenden Wirkung nicht die Erde berühren durfte, konnte das Mädchen in den Stand der jungen Frauen aufgenommen werden, wobei der erneuerte Zustand als Resultat einer symbolisch durchgeführten Tötung und der darauf folgenden Wiedergeburt verstanden wurde." Edith Lotzer: Die destruktive Macht der Familie in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. In: Tod und Wandel, a.a.O. S. 113 f

3 Zum Zusammenhang von Bulimie und Schneewittchen vergl. Cordula Keppler: Bulimie. Wenn Nahrung und Körper die Mutter ersetzen. Hamburg 1995, S. 55 ff

4 Vergl. Regine Prange: Das Kristalline als Kunstsymbol - Bruno Taut und Paul Klee. Hildesheim 1991, sowie Roland März: "Kristall - Metapher der Kunst. Geist und Natur von der Romantik zur Moderne", Ausstellungskatalog der Lyonel Feininger Galerie Quedlinburg 1997


Quelle: Schneewittchen - über den Mythos kalter Schönheit. Ein Eiskristallbuch.
Herausgegeben von Gerda Buxbaum und Christina Lammer. Konkursbuchverlag,
Tübingen 1999